Siesmayerstrasse - Miquelstrasse

Zu Beginn des Jahres 1938 wurde ein ca. 500 m langer Abschnitt der damaligen Linie 6 am Palmengarten aufgegeben, der bis dahin rund 23 Jahre in Betrieb gewesen war. Eine der ersten drei Strecken, für die am 20.1.1899 der elektrische Straßenbahnbetrieb genehmigt worden war, war die vormalige Pferdebahnstrecke vom Opernplatz zum Palmengarten, durch den Reuterweg, den Grüneburgweg und die Feldbergstraße. Am Ende der Feldbergstraße bog sie rechts ab und endete in der Kreuzung Rossertstraße ungefähr vor dem Eingang des Palmengartens. 1915 wurde sie vom Eingang des Palmengartens nochmals um rd. 500 m nach Norden verlängert, 1938 aber wieder eingestellt. Über diese 500-m-Strecke ist wenig bekannt, im Straßenraum sind Spuren heute kaum noch aufzufinden, Aufschluss geben jedoch die Archive.

Ausschnitt aus dem Ravenstein Plan 1895

Ausschnitt aus dem Ravenstein Plan von 1895 © Stadtvermessungsamt

       Mitte April 1915 konnten die Frankfurter im Amtsblatt die Mitteilung des Polizeipräsidenten lesen,
       der Magistrat beabsichtige, "die bestehende, zur Zeit in der Miquelstraße am Palmengarten
       endende Straßenbahn bis zur Siemayerstraße zu verlängern." (Amtsblatt, S. 125).  Kurz darauf
       stellte der Regierungspräsident in Wiesbaden die Pläne fest und erteilte am 7.5.1915 die
       Genehmigung (Amtsblatt, S. 156/157). Zweieinhalb Monate vorher, am 24.2.1915 hatte das
       Elektrizitäts- und Bahnamt dem Magistrat die Übersichts- und Lagepläne und den Kostenanschlag
       des Projekts vorgelegt:
       "Hiernach ist beabsichtigt, die neue etwa 500 m lange Bahnstrecke nur in ihrem
   vorderen, etwa 160m langen Teile zweigleisig, im hinteren dagegen vorläufig nur
   eingleisig auszuführen. Es erscheint dies zweckmäßig, weil in dem hinteren Teile der
   Miquel-Straße in absehbarer Zeit noch der Strassenkanal hergestellt werden muss und
   der Verkehr auf der bezeichneten Strecke ,- hinter dem Eingang zum Palmengarten -, in
   den nächsten Jahren jedenfalls nur ein sehr geringer sein wird. Aus letzterem Grunde
   ist auch beabsichtigt, von den drei jetzt am Palmengarten endenden Linie vorerst nur
   eine bis zur Siesmayer-Straße durchzuführen. Die anderen beiden Linien aber nach wie
   vor am Palmengarten enden zu lassen. Um diejenigen Züge dieser beiden Linien, die
   Anhängewagen führen, leicht und bequem wenden lassen zu können, ist an der Einmündung
   des Grüneburgwegs eine Gleisspitzkehre vorgesehen, welche nicht als dauernde Anlage
   gedacht ist, sondern wieder beseitigt werden soll, wenn später sämtliche Linien bis
   zur Siesmayer-Straße durchgeführt werden. (…) Die Kosten der neuen Gleisverlängerung
   berechnen sich nach dem beigefügten Anschlag zu 66 000,.--M.
..."
    (ISG, Magistratsakten R1797, Bd. IV, Vorgang 38 l).
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Nur wenn man genau hinschaut findet man noch Spuren einer Straßenbahn in der oberen Siesmeyerstraße

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Noch am selben Tag stimmte der Magistrat den Plänen zu und 13 Tage später, am 9.3.1915 die Stadtverordnetenversammlung (ISG, a.a.O., Vorgang Nr. 38f und 38g). Am 20.7.1915 beantragte der Magistrat beim Regierungspräsidenten die Abnahme:
"Wir bitten, die landespolizeiliche Abnahme der neuen Strecke tunlichst in der Zeit vom 29. bis 31. ds. Mts. vornehmen lassen zu wollen. Die Länge der neuen Bahnstrecke beträgt 0,498 km. (…) Gleichzeitig bitten wir, die auf dem Plan mit einem roten Kreis bezeichnete Endhaltestelle Siesmayer-Straße zu genehmigen." (ISG, a. a. O.)

Ob die Strecke tatsächlich noch Ende Juli abgenommen wurde, ist den Quellen nicht zu entnehmen, fest steht aber, dass der fahrplanmäßige Betrieb am 15.10.1915 von der damaligen Linie 19 aufgenommen wurde; die Beschwerde einiger Anwohner hatte das nicht aufhalten können:
 

"Die unterzeichneten Anwohner der Miquelstrasse und des Grüneburgwegs führen darüber Beschwerde, dass gleichzeitig mit der Fortführung der elektrischen Bahn durch die Miquelstrasse bis zur Siesmayerstrasse im Grüneburgweg Geleise zum Rangieren der Wagen gelegt werden sollen. Durch diese Anlage würden die Bewohner der Häuser an der Ecke der Miquelstrasse und des Grüneburgwegs in sehr empfindlicher Weise gestört und belästigt werden. Denn das häufige, man kann wohl sagen fast ununterbrochene Hin- und Herfahren der Wagen verursacht einen erheblichen Lärm, der das bis jetzt gewährleistete ruhige Wohnen für die Zukunft ausschließen würde. Das Geräusch wäre umso störender als es bei der sonstigen Ruhe dieses Strassenteils das einzige wäre, dass die Anwohner vernehmen würden. Da der Betrieb der elektrischen Bahn am Morgen schon zu einer Zeit den Anfang nimmt, zu der die Einwohner der anliegenden Häuser noch zu schlafen pflegen, so würden sie fortan schon in ihrem Morgenschlaf durch das Geräusch der fahrenden Wagen gestört werden. Es muss unter diesen Umständen damit gerechnet werden, dass die Wohnungen im Erdgeschoss völlig unbewohnbar sein und auch die Wohnungen in der Obergeschossen in ihrem Mietwert wesentlich würden beeinträchtigt werden.
Den verehrlichen Magistrat bitten daher die Unterzeichneten, von der geplanten Anlage Abstand zu nehmen."
(es folgen mehrere eigenhändige Unterschriften)
(ISG, a.a.O., Vorgang Nr. 42)

Die Beschwerde blieb ohne Erfolg, den Erstunterzeichner beschied der Magistrat am 22.7.1915:
"Auf Ihre Eingabe vom 9. Juli 1915.
Ihrem Ersuchen, der Magistrat mögen von der geplanten Gleisspitzkehre im Grüneburgweg Abstand nehmen, kann nicht entsprochen werden, da die Anlage für das Wenden der Straßenbahnzüge, soweit sie mit Anhängewagen verkehren, nicht entbehrt werden kann.
Ihre Besorgnis, dass durch das Kehren der Züge die Anwohner im Grüneburgweg in sehr empfindlicher Weise gestört und belästigt werden würden, ist übrigens nicht begründet. Nur ein geringer Teil der durch die Miquelstraße laufenden Züge hat Anhängewagen und nur diese Züge fahren im allgemeinen in den Grüneburgweg ein und zwar stets nur mit sehr gemässigter Geschwindigkeit. Der Straßenbahnverkehr im Grüneburgweg ist daher erheblich geringer und geräuschloser als in den Strassen, durch die regelmäßig Strassenbahnlinien fahren. Auch wird darauf gehalten werden, dass alle unnötigen Geräusche vermieden werden.
Es wird Ihnen anheimgestellt, den Mitunterzeichnern der Eingabe von vorstehender Antwort Kenntnis zu geben
." (ISG, a. a. O.)
 

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Der Verlauf der Strecke mit dem Gleisdreieck im Grüneburgweg.

Die Straße entlang des Palmengartens, die wir heute als Siesmayerstraße kennen, endete damals nicht am Grüneburgpark, sondern führte weiter geradeaus nach Norden, zwischen Grüneburgpark und Botanischem Garten hindurch, in einem Viertelkreis nach Osten um den Grüneburgpark herum (die Hansallee gab es noch nicht) zur Eschersheimer Landstraße. Der gesamte Straßenzug von der Bockenheimer Landstraße bis zur Eschersheimer Landstraße hieß Miquelstraße, den Alleenring gab es zu dieser Zeit noch nicht.
Die Zeppelinallee ist erstmals im Ravensteinplan von 1910 – noch namenlos – als Straßenprojekt gestrichelt eingezeichnet. Zugleich wurde am Nordrand des Palmengartens eine etwa 350 m lange – gleichfalls noch namenlose -  Straßenverbindung von der Zeppelinallee zur Miquelstraße projektiert; der Nordrand des Palmengartens war bis dahin von einem alten Feldweg begrenzt worden. 1911 ist der neuen Allee westlich des Palmengartens der Name Zeppelinallee beigegeben worden; gleichzeitig wurde der alte Feldweg zur Straße ausgebaut und Siesmayer-Straße genannt. Ungefähr zur selben Zeit entstand nordöstlich, parallel zur Zeppelinallee die  Frauenlobstraße, deren südliches Ende nach Nordwesten von der Miquelstraße abzweigte.
Der Alleenring entstand 1941 durch Straßenumbenennungen: die ehemalige Siesmayer-Straße sowie der sich nach Norden und Osten anschließende Teil der Miquelstraße wurden zusammengefaßt und in Miquelallee umbenannt. Erst dadurch wurden alle Abschnitte des Rings – abgesehen von der Höhenstraße - wenigstens dem Namen nach zu Alleen und die Straßenverbindung vom Röderbergweg im Osten bis zur Mainzer Landstraße im Westen wurde tatsächlich ein Alleenring. Der südliche Rest der Miquelstraße – vom Alleenring zur Bockenheimer Landstraße - wurde in Siesmayerstraße  umbenannt, denn die bisherige Siesmayer-Straße war ja Teil der Miquelallee geworden. Im Adressbuch der Stadt Frankfurt ist diese Umbenennung erstmals im Jahrgang 1942 vermerkt.

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Fünf Monate für Planung, Genehmigung und Bau einer Straßenbahnstrecke, selbst wenn es nur 500 m waren (s. Bild links), waren selbst für damalige Verhältnisse eine beachtlich kurze Zeit für ein ganz und gar nicht kriegswichtiges Projekt durch einen unbewohnten Bereich der Stadt.
Warum also diese Eile?
Und warum überhaupt dort, am Rande des Grüneburgparks?
Und warum nur dieses kurze Stück?
 
Der Bau der Verlängerungsstrecke geht auf einen städtebaulichen Vertrag zurück, den der Magistrat mit den Eigentümern des Umlegungsgebietes „Ginnheimer Höhe" geschlossen hatte. Im Zuge eines großen Stadterweiterungsprojektes wurde u.a. ab ca. 1905 der Bereich zwischen Zeppelinallee und Frauenlobstraße erschlossen und bebaut. Im Zuge eines Umlegungsverfahrens wurden die zahlreichen bis dahin brach liegenden oder gärtnerisch genutzten und meist ungünstig geschnittenen Grundstücke unter Löschung der bisherigen Grenzen zusammengelegt und in sinnvoll bebaubare Parzellen aufgeteilt. 30% der gesamten Fläche waren für die Anlage von öffentlichen Straßen, Plätzen und Grünanlagen entschädigungslos an die Stadt abzutreten. Die Einzelheiten der Umlegung, wer welche Flächen einbrachte und welche Flächen zugeteilt bekam, mit welchen Geldbeträgen Mehr- oder Minderzuteilungen auszugleichen waren etc. wurde zwischen den Umlegungsteilnehmern, also den betroffenen Eigentümern und der Stadt Frankfurt vertraglich geregelt. Im „Vertrag vom 20.6.1907/24.6.1908 betreffend die Zusammenlegung von Grundstücken auf der sog. Ginnheimer Höhe“ hat sich der Magistrat verpflichtet, binnen sieben Jahren nach Inkrafttreten des Vertrages, also bis zum 24.6.1915, die bis dahin in der Miquel-Straße endende Straßenbahn bis zur Siesmayer-Straße zu verlängern.
 

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Die linke Fahrbahn folgt dem Verlauf der ehm. Miquelstraße

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Die Siesmeyerstraße 2011 mit Elektrotankstelle

Wie schon im Genehmigungsantrag angenommen, gab es auf der Streckenverlängerung nur wenig Verkehrsnachfrage, so dass nicht jeder Zug bis zur Siesmayer-Straße fuhr; 1925 wurde dann der Samstags- und Sonntagsbetrieb, am 9.1.1938 wurde der Betrieb gänzlich eingestellt. Warum der Betrieb gerade zu diesem Zeitpunkt endete ist nicht bekannt.  
Ob die Aufgabe der Straßenbahnverlängerung in der Miquelstraße mit dem zweigleisigen Ausbau in der Franz-Rücker-Allee zusammenhing, ist reine Spekulation, Tatsache ist aber, dass im Februar 1939 der zweigleisige Ausbau der Strecke in der Franz-Rücker-Allee in Betrieb ging, der ein paar Monate vorher, also zeitnah zur Stilllegung der Strecke in der Miquelstraße begonnen haben muss. Dieser Zusammenhang ist nicht belegt, aber es liegt auf der Hand, dass die Strecke durch die Franz-Rücker-Allee die Ginnheimer Höhe wesentlich effizienter erschloss als der randständige Streckenast am östlichen Ende der Frauenlobstraße.

Dabei gab es durchaus Überlegungen, nach denen die Strecke in der Miquelstraße eine Zukunft hätte haben können. Es ging um eine Neubaustrecke für die Linien 24 und 25 von Heddernheim zum Hauptbahnhof unter Umfahrung der Eschersheimer  Landstraße und der Hauptwache. Sie führte von der Frauenlobstraße durch damals unbebautes Gebiet am Ortsrand von Ginnheim entlang zum Weißen Stein (vgl. Karl Horn, Frankfurter Verkehrsfragen, in: Frankfurter Jahrbuch 1926, hrsg. von Ludwig Landmann, Römerverlag, 1926). Aber wie wir wissen, sind es Überlegungen geblieben.

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Mögliche Trasse der SL24 und SL 25.
Diese Überlegungen haben in etwas abgewandelter Form an Aktualität gewonnen.
Momentan gibt es Planungen einer ähnlichen Trasse um die Eschersheimer Landstrasse vom Stadtbahnverkehr zu entlasten.

S.a. www.ginnheimer-kurve.de
 

Jedenfalls wurde der Abschnitt nördlich des Grüneburgwegs am 9.1.1938 still gelegt und die Linie 6 wieder auf den Stand von vor 1915, also bis vor den Osteingang des Palmengartens verkürzt; nur die Gleisspitzkehre am Grüneburgweg wurde beibehalten und blieb noch 17 Jahre in Betrieb.
 
Von der Teilstrecke Grüneburgweg - Alleenring ist seit langem nichts mehr zu sehen. Obwohl die Gleise noch bis Kriegsende betriebsbereit lagen, findet nur noch der aufmerksame Beobachter in der Straße schwache Spuren, nachdem 1954/55 ein 230 m langer Teil der alten Miquelstraße eingezogen und bebaut worden ist. Es steht dort das Botanische Institut der Universität, die heutige Siesmayerstraße wurde dadurch zur Sackgasse. Die Tektur des Fahrbahnbelags in diesem nördlichen Stumpf der Siesmayerstraße deutet darauf hin, dass im Bereich des Botanischen Instituts die Gleise ausgebaut, im Übrigen aber nur überteert wurden. Tatsächlich gibt der verschlissene Fahrbahnbelag die liegen gebliebenen Gleise stellenweise wieder frei. Auch die Umrisse eines Weichenkastens sind bei genauem Hinsehen auszumachen, wie man auf den nachstehenden Fotos erkennen kann. Während die Spuren des „alten“ elektrischen Verkehrsmittels sicher bald ganz verschwinden, kündet die RWE-Stromtankstelle von einem neuen Zeitalter der Elektromobilität.

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© Matthias Hoffmann 06/2011

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Schwache Spuren im Asphalt lassen die Straßenbahnvergangenheit an dieser Stelle erkennen