Kleyerstraße (Rebstöcker- bis Sondershausenstraße) ein Kuriosium

1912 wurde die Straßenbahn in der Höchster Straße, der heutigen Kleyerstraße, eingleisig über die Rebstöcker Straße hinaus fast 800 m nach Westen verlängert bis zur Sondershausenstraße am Westrand der heutigen Friedrich-Ebert-Siedlung .[1] Am 15.10.1912 nahm auf der Linie 35 werktags zwischen Rebstöcker- und Sondershausenstraße ein einzelner A-Wagen den Pendelbetrieb auf; es war die kürzeste Linie im Netz, die Fahrzeit betrug 3 Minuten; nur Sonn- und Feiertags fuhr sie weiter bis zur Galluswarte. Die Linie 35 war ein Kuriosum, sie führte sozusagen ins städtische Nichts, denn westlich des Eisenbahnviadukts war die Welt eigentlich zu Ende.

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Es gab zwar schon die Sondershausenstraße, aber ansonsten gab es weder die Friedrich-Ebert-Siedlung - sie wurde erst 1930/31 gebaut – noch größere Betriebe. Das Frankfurter Adressbuch von 1915 weist entlang der Höchster Straße jenseits des Eisenbahnviadukts eine Nutzholzhandlung, Lagerplätze und Felder aus, also nichts, was den Bau und Betrieb einer Straßenbahnlinie gerechtfertigt hätte.
Die Strecke war eine Vorleistung der Stadt Frankfurt, die sie in Erfüllung eines städtebaulichen Vertrages gebaut hat, dem die Stadtverordneten mit Beschluss § 439 vom 24. Mai 1910 zugestimmt haben. Ihm lag der Bericht des Elektrizitäts- und Bahnamtes vom 25.4.1910 zugrunde, der über den Grund des Streckenbaus Auskunft gibt:
"In dem mit der Internationalen Baugesellschaft abgeschlossenen Vertrag vom 25.6.1907 nebst Nachtrag vom 12.11.1908, betreffend die Erschließung des Geländes westlich der Taunusbahn, hat die Stadt u.a. die Verpflichtung übernommen, nach Genehmigung der Herstellung einer Unterführung durch den Taunusbahndamm im Zuge der Höchster Straße, die Straßenbahn durch die Unterführung bis zur westlichen Grenze des Vertragsgebietes in Antrag zu bringen und baldtunlichst zu bauen und zu betreiben.  …
Die Genehmigung zur Herstellung der genannten Unterführung ist seitens der Eisenbahnverwaltung bereits erteilt; mit der Ausführung wird demnächst begonnen werden. … Die Kosten der neuen Bahnstrecke berechnen sich zu 90.000 M. "
(ISG, Akten der StVV 1.092, S. 238 f.)

Dass die Stadt Frankfurt eine solche Vorleistung erbrachte, ist nur damit zu erklären, dass der Vertragspartner mit der Baufirma Philipp Holzmann rechtsgeschäftlich verbunden war, die ihrerseits auf das Engste im Baugeschehen in Frankfurt verwurzelt und bestens beleumundet war. Die 1872 von sechs namhaften Banken gegründete Internationale Baugesellschaft (ab 1893 eine AG) war eine sog. Terraingesellschaft und seit 1873 als Kommandistin an der Baufirma Philipp Holzmann & Co KG beteiligt. Sie beschaffte und bewirtschaftete etliche Grundstücke, die die Fa. Philipp Holzmann bebaute. In Frankfurt besaß die Internationale Baugesellschaft zu dieser Zeit rd. 25 ha Grund und Boden in den besten Lagen [2], darunter das Gelände der späteren Hellerhofsiedlung und eben auch ein Gebiet an der Höchster Straße. Als die Fa. Philipp Holzmann 1917 in eine AG umgewandelt wurde, übernahm sie zugleich die Internationale Baugesellschaft. Was dem Bauprojekt an der Höchster Straße vor dem 1. Weltkrieg im Wege stand, ist nicht übermittelt, aber in großem Stil gebaut wurde dort erst über 20 Jahre später.

So ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Betrieb bei Ausbruch des 1. Weltkrieges am 2.8.1914 nach nicht einmal 22 Monaten wieder eingestellt wurde. 14 Jahre lag die Strecke betriebsbereit, bis die Linie 35 am 1.9.1928 erneut auf die Strecke ging. Worin das Motiv für die Betriebsaufnahme ausgerechnet im Jahr 1928 lag, ist nicht rekonstruierbar, denn die Verkehrsnachfrage war weiterhin schwach, der Sonn- und Feiertagsbetrieb zur Galluswarte entfiel und ein einzelner B-Wagen pendelte nur noch werktags zwischen Rebstöcker- und Sondershausenstraße; ein halbes Jahr später wurde der Betrieb sogar auf die Hauptverkehrszeit beschränkt.

 

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Der Grund für die schwache Nachfrage war, dass die Ansiedlung von Betrieben bis dahin – jedenfalls westlich des Homburger Damms - eher schleppend verlaufen und die Friedrich-Ebert-Siedlung allenfalls geplant, aber noch längst nicht im Bau, geschweige denn bewohnt war. Gegen Ende des 1. Weltkrieges waren eine Fruchtzuckerfabrik und die Telegraphenbaugesellschaft m.b.H. (später Telefonbau + Normalzeit) hinzugekommen, die aber erst in den 30er Jahren stark erweitert wurde, sowie ein Betrieb der Lurgi und ein Baugeschäft; weiterhin erstreckten sich große Freiflächen entlang der Strecke. Der Sportplatz ganz am Ende, westlich der Sondershausenstraße wurde erst 1932 eröffnet.
Über das Motiv der Betriebsaufnahme ausgerechnet 1928 kann man deshalb nur spekulieren. Allem Anschein nach hat es schon 1902 Überlegungen gegeben, die Gemeinde Griesheim über die Höchster Straße und deren zu bauende Verlängerung anzubinden: als es um die Verlängerung der Straßenbahn von der Galluswarte nach Westen ging, machten sich die in der Höchster Straße ansässigen Industriebetriebe, allen voran die Adler-Werke mit über 1.000 Arbeitern und Angestellten, in einer förmlichen Eingabe an den Magistrat dafür stark, die Strecke nicht durch unbebautes Gebiet entlang der Mainzer Landstraße zu führen, sondern durch die Höchster Straße. Dem Schreiben an den Magistrat war ein Plan beigefügt, der die Streckenführung durch die Höchster Straße zeigte mit der Verlängerung durch die westliche Höchster Straße bis zum Griesheimer Bahnhof.
Ob dieser Plan die offiziellen Überlegungen des Elektriziäts- und Bahnamtes wiedergab oder eine Idee der Einwender war, um die Sinnhaftigkeit einer Streckenführung durch die Höchster Straße zu unterstreichen, ist nicht bekannt. Wie wir wissen, ist am 1.9.1902 die Strecke in der Mainzer Landstraße von der Galluswarte bis zur Rebstöcker Straße in Betrieb gegangen, während die Betriebe in der Höchster Straße noch bis zum 19.8.1909 warten mußten, bis die Straßenbahn in der Höchster Straße ihren Betrieb aufnahm.

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Fluchtlinienplan F-1570 vom 20.8.1951, Copyright: Stadtplanungsamt Frankfurt am Main

Fluchtlinienplan F-1570 vom 20.8.1951
Copyright: Stadtplanungsamt Frankfurt am Main.

Wenn man mit der Maus über das Bild fährt sieht man, wie eine Verbindung zur Waldschulstraße geplant war

Der Fluchtlinienplan F-1570 vom 20.8.1951, dessen Festsetzungen im übrigen nichts mit der Straßenbahn zu tun hatten, wurde auf einem älteren amtlichen Kartenblatt veröffentlicht, das zufällig noch die Lage des Straßenbahngleises im Bereich Kleyer-/Sondershausenstraße abbildet. Im Grunde ist das die einzige auffindbare bildhafte Spur der Straßenbahn zur Sondershausenstrasse.

Als am 1.4.1928 die Gemeinde Griesheim nach Frankfurt eingemeindet wurde, hätte ohne weiteres die Möglichkeit  bestanden, die Linie 35 in gerader Strecke durch freies Feld um      1.200 m bis zum Griesheimer Bahnhof zu verlängern.
Da aber Griesheim über die Mainzer Landstraße angebunden wurde (vgl. den Artikel „Waldschulstraße“), blieb die Linie 35 ein Kuriosum: obwohl sie weiterhin sehr wenig benutzt wurde (Michelke/Jeanmarie geben als höchste Fahrgeldeinnahme einen Jahresbetrag von 935 Mark an, das sind durchschnittlich 2,56 Mark/Tag), pendelte sie auf ihrer 800-m-Strecke noch fast 26 Jahre, bis beides, Linie und Strecke, nach dem Bombenangriff vom 18.3.1944 endgültig aufgegeben wurde. Wegen des kriegsbedingten Materialmangels war schon in den letzten Monaten des Krieges die Oberleitung ausgebaut und an anderer Stelle zur Beseitigung der Kriegsschäden verwendet worden; das Gleis blieb aber noch bis in die 50er Jahre hinein liegen.

Bis hierher ist die Geschichte weitgehend bekannt. Weniger bekannt ist, dass es nach Kriegsende beschlossene Sache war, die Strecke zur Sondershausenstraße – sogar zweigleisig und mit einer Gleisspitzkehre in der Sondershausenstraße - wieder in Betrieb zu nehmen. Nur der Mangel an Material und Geld verhinderte, dass der Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom 18.1.1951 sofort ins Werk gesetzt wurde:

„In den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg musste aus Mangel an Gleisbaustoffen ein Gleis der Straßenbahnstrecke in der Kleyerstrasse zur Durchführung betriebsnotwendiger Instandsetzungsarbeiten an anderen Stellen des Gleisnetzes ausgebaut werden. Folgend den Wünschen der Anlieger sowie in Anbetracht der Wiederaufnahme der Arbeit in den Adlerwerken und den wiederholten Wünschen der Firma Telefonbau und Normalzeit soll demnächst dieses Gleis wieder eingebaut werden. Damit ist dann wieder wie früher die Möglichkeit des zweigleisigen Straßenbahnbetriebes über die Rebstöckerstrasse – Kleyerstrasse und für die in den anliegenden Fabriken Arbeitenden eine günstige Fahrmöglichkeit gegeben.

Die darüber hinaus gewünschte Wiederherstellung der Strassenbahnstrecke in der Kleyerstrasse bis zur Sondershausenstrasse kann angesichts vorliegender, wesentlich vordringlicherer Arbeiten zur Zeit noch nicht verwirklicht werden.

Die elektrische Strassenbeleuchtung in der Kleyerstrasse, und zwar in dem Abschnitt zwischen Rebstöckerstrasse und Sondershausenstrasse, war vor dem Kriege an den Masten der Strassenbahnoberleitung angebracht. Nach Entfernung der Strassenbahn aus diesem Teil der Strasse wurde auch die Beleuchtungsanlage mitbeseitigt, da die Lampen sowohl als auch die Freileitung an den Strassenbahnmasten befestigt waren. Da der Bau einer neuen Beleuchtungsanlage mit ganz erheblichen Kosten verbunden ist und den Stadtwerken die erforderlichen Geldmittel nicht zur Verfügung stehen, kann die elektrische Strassenbeleuchtung erst mit der Wiederherstellung einer Strassenbahnlinie in dem fraglichen Strassenabschnitt eingerichtet werden. ...“ (ISG, Magistratsakte Nr. 4113, Band 2, Bericht des Magistrats vom 24.4.1951 an die StVV).

 

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Auf Antrag der CDU-Fraktion ist die zweigleisige Verlängerung bis zur Sondershausenstrasse einschließlich der Gleisspitzkehre zwar formal in das Bauprogramm der Straßenbahn aufgenommen, gleichzeitig aber auf unbestimmte Zeit zurückgestellt worden.

Die Kosten für die genannte Verlängerung betragen 200.000,-- DM. Ein Zeitpunkt für die Durchführung … kann jedoch noch nicht angegeben werden, da zur Zeit noch dringlichere Bauvorhaben der Strassenbahn in größerer Zahl vorliegen, die mangels der erforderlichen Gelder noch nicht durchgeführt werden konnten. ...“

(ISG, a. a. O., Schreiben des Magistrats vom 20.12.1951). Die Stadtverordnetenversammlung hat sich zwar vorbehalten, die Angelegenheit in den jährlichen Etatberatungen aufzugreifen (ISG, a.a.O., StVV-Beschluß § 50 vom 17.1.1952), aber es gab in den Jahren des Wiederaufbaus fraglos wichtigere Verkehrsprojekte, jedenfalls ist die Angelegenheit soweit bekannt nach 1952 nicht mehr aufgegriffen worden.
Da es sich allem Anschein nach abgezeichnet hatte, dass es bis zum Bau noch Jahre dauern könnte, hatten einige Stadtverordnete aus dem Gallus, sozusagen als Ersatz, schon vorher die Einrichtung einer zusätzlichen Straßenbahnhaltestelle in der Mainzer Landstraße angeregt. Die vorgeschlagene Haltestelle „Ackermannstraße“ hat der Magistrat jedoch nach einer negativen Stellungnahme der Straßenbahnverwaltung ebenso abgelehnt wie die Verlegung der Haltestelle Rüsselsheimer Straße nach Osten:

Die Lage der Haltestelle Mainzer Landstrasse/Rüsselsheimer Strasse ergibt sich aus den örtlichen Verhältnissen. Sie kann weder in Richtung Nied noch in Richtung Rebstöcker Straße verlegt werden. Eine Verlegung...würde zwangsläufig zu Protesten der Anlieger führen.
Die Einteilung der Haltestellen zwischen Mönchhofstraße und Galluswarte entspricht den gegebenen Verhältnissen. Hinzu kommt, daß eine Vermehrung der Haltestellen auf der Mainzer Landstraße nicht hingenommen werden kann, da hierdurch die durch den Verkehr in der Innenstadt ohnehin stark gehemmte Reisegeschwindigkeit im Verkehr nach den westlichen Vororten noch weiter verringert würde. Die Zahl der im Verkehr nach den westlichen Vororten ... nachteilig betroffenen Fahrgäste ist erheblich größer, als die Zahl der bei Neueinrichtung der Haltestelle Mainzer Landstraße/Ackermannstraße Nutzen ziehenden Fahrgäste. Es wird daher gebeten, von der Neueinrichtung der Haltestelle...oder eine Verlegung der Haltestelle...Rüsselsheimer Straße im Interesse des überwiegenden Teiles unserer Fahrgäste der Linien 10,12, 14 und 22 Abstand zu nehmen.“
(ISG, a. a. O., Schreiben des Magistrats vom 16.8.1951).

Anscheinend hatten die Stadtwerke doch noch ein Einsehen, vielleicht weil sich intern bereits abzeichnete, dass es mit der Strecke in der Kleyerstraße nichts mehr werden würde, denn knapp zwei Jahre später, vermutlich 1953, wurde die Haltestelle an der Rüsselsheimer Straße um rd. 140 m nach Osten verlegt und in Wickerer Straße umbenannt. Sie liegt seit dem fast genau mittig zwischen Mönchhof- und Rebstöckerstraße.

 

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Fast 50 Jahre war die westliche Kleyerstraße ohne ÖPNV, erst seit September 1993 verkehrt zwischen Rebstöcker- und Sonderhausenstraße die Buslinie 52. Von der Straßenbahnstrecke selbst existieren heute keine Spuren mehr und auch die Betriebe von damals existieren längst nicht mehr. Der bedeutendste Betrieb dort ist heute die „Databurg“, eines von z.Z. fünf über die Stadt verteilten Rechenzentren des deutschen Internetknotens DECIX.

 

[1]Die Angabe der Streckenlänge mit 400 m bei Horst Michelke/Claude Jeanmarie, Hundert Jahre Frankfurter Straßenbahn, 1972, S. 19 dürfte auf einem Druckfehler beruhen; in Wirklichkeit beträgt die Distanz von der Abzweigung Rebstöcker Straße zur Endhaltestelle an der Einmündung Sondershausenstraße 790 m.

 

© Matthias Hoffmann 04/2011